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Neuerscheinungen - Bezüge zu Bollnow
Besprechung Bollnow-Studienausgabe Bd. X-XII von Dr. Helmut Johach / Januar 2022
Otto Friedrich Bollnow: Schriften – Studienausgabe in 12 Bänden. Hrsg. v. Ursula Boelhauve, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009-2021.
Bd. X: Dilthey. Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps. Würzburg 2019.
Bd. XI: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften. Würzburg 2020.
Bd. XII: Philosophie der Erkenntnis. Späte Aufsätze zur hermeneutischen Philosophie. Würzburg 2021.
Die angezeigten drei Bände bilden mit Arbeiten zur Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Philosophie der Geisteswissenschaften den abschliessenden dritten Teil der Bollnow-Studienausgabe, nachdem die schon früher erschienenen Bände I – IX seine wichtigsten Arbeiten zur Philosophie und Pädagogik enthalten. Die Ausgabe insgesamt ist nicht chronologisch, sondern nach thematischen Gesichtspunkten geordnet. So ergibt sich ein Überblick über Bollnows entsprechende Veröffentlichungen, beginnend mit dem Dilthey-Buch (1936) aus der Zeit in Göttingen, bis hin zu seiner zweibändigen Philosophie der Erkenntnis (1970/75), die überwiegend auf Aufsätzen und Vorlesungen aus der späteren Tübinger Zeit beruht. In ihnen wird eine offene Synthese präsentiert, in der sich Hermeneutik, Lebensphilosophie und Ausführungen über den Zusammenhang von Leben und Erkennen gegenseitig erläutern und ergänzen.
Band X der Bollnow-Studienausgabe wird eröffnet mit der unveränderten Erstauflage von Dilthey – Eine Einführung in seine Philosophie (1936), die von Bollnow für die 4. Auflage (1980) mit einem ausführlichen neuen Vorwort versehen wurde. Für die Dilthey-Forschung bedeutet dieses Buch insofern eine Pionierleistung, als es erstmals die als „maßgebend“ bezeichnete „letzte und reifste Lebensepoche“ (S. 5) Diltheys erschließen konnte. Dabei stützt sich Bollnow neben dem großen Vorbericht von Georg Misch zu Bd. V der Gesammelten Schriften Diltheys vor allem auf Bd. VII, der 1927 erschienen war. Ferner sind Einflüsse Heideggers erkennbar, der von Dilthey in Sein und Zeit (1927) vor allem die Geschichtlichkeit und das Verstehen als grundlegende „Existenzialien“ übernommen hatte. Bollnow stellt Diltheys Lebensbegriff mit dem darin enthaltenen Schöpferischen in den Vordergrund, vor allem jedoch die „Kategorien des Lebens“ (S. 89ff.), unter denen Bedeutsamkeit und Bedeutung, Struktur und Entwicklung herausragen. Diltheys Trias von „Erleben, Ausdruck und Verstehen“ steht bei ihm für eine hermeneutische Lebensphilosophie, die den engen Rahmen einer „Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“ (was Dilthey noch als ursprüngliche Aufgabe der Hermeneutik angesehen hatte) bereits weit überschritten hat.
Der zweite Teil des Bandes konzentriert sich auf zwei Autoren, die Diltheys Lebensphilosophie in Richtung einer „hermeneutischen Logik“ weiterentwickelt haben: Georg Misch, den bedeutendsten Schüler Diltheys und Lehrer Bollnows in Göttingen bis 1937, und Hans Lipps, der ursprünglich von Husserl herkam und der Existenzphilosophie nahestand. Beide suchen hinter die diskursive Logik und deren sprachliche Fixierung in Begriff, Urteil und Schluss zurückzugehen auf vorprädikative Formen des Ausdrucksverhaltens und die vielfältigen Funktionen der Sprache und des Sprechens, gipfelnd in der „evozierenden Aussage“ (S. 239), mit der das Gemeinte nur angedeutet und die Eigentätigkeit des Rezipienten gefördert wird.
Neben Aufsätzen zu traditionellen Fragestellungen der Hermeneutik ‒ z.B. Was heißt einen Schriftsteller besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat? (1940) ‒ enthält Band XI der Studienausgabe vor allem Beiträge zur Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften. An deren Wissenschaftsanspruch hält Bollnow fest, auch wenn er nicht so exakt definiert werden kann wie bei den Naturwissenschaften. Als wesentlichen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften notiert er: „Die Natur stellt sich uns in Kausalzusammenhängen, die Kultur in Sinnzusammenhängen dar.“ (S. 38) Erstere sind empirisch zu untersuchen und im Ergebnis zu bestätigen oder zu widerlegen, letztere dagegen sind nachzuvollziehen, zu explizieren oder – falls gestört – wiederherzustellen und zu verbessern. Im Unterschied zu Gadamer hält Bollnow es für notwendig, die hermeneutische Erfahrung methodisch zu sichern, um dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu genügen (S.37). Ebenso problematisiert er Diltheys scheinbar klare Alternative von Erklären und Verstehen, indem er die These vertritt, dass „beide Methoden in jedem wissenschaftlichen Verfahren zusammenwirken, wenn auch jedesmal in einer besonderen Weise. Auch die Geistes-wissenschaften können nicht auf das Erklären verzichten“ (S. 39).
Zwei Untersuchungen, auf die Bollnow Bezug nimmt, verdienen besondere Erwähnung: Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967) und Paul Ricœur, Die Interpretation – Ein Versuch über Freud (1969). Habermas hat bekanntlich in einer Art „Review“ verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien daraufhin untersucht, wieweit objektivierend-empirische und sprachlich-kommunikative Verfahren in ihnen zum Zuge kommen – mit dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die „von ihm meist als hermeneutisch bezeichneten Methoden im Aufbau der Sozialwissenschaften unentbehrlich bleiben“ (S. 50). Soweit der Untersuchungsgegenstand, das soziale Handeln, sprachlich strukturiert ist, stützt sich Habermas für diesen Aspekt zunächst auf Gadamers Hermeneutik, bis nach dem „linguistic turn“ die angelsächsische Sprachphilosophie an deren Stelle tritt. Paul Ricœur bringt in seinen (in Deutschland wenig rezipierten) Untersuchungen vor allem zwei weitere Aspekte in die Diskussion um die Hermeneutik ein: zum Einen die Thematisierung des Unbewussten durch Freud (S. 121ff.) und zum Anderen einen gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch erheblich erweiterten Symbolbegriff (S. 106 ff.). Durch das Unbewusste verliert das Bewusstsein seinen Status als das primär Gegebene im Sinne von Descartes. Um die Symbolsprache der Träume zu deuten, genügt es nicht, bei der einfachen Relation von „sinnlichem Zeichen“ und „geistiger Bedeutung“ zu bleiben, wie Cassirer den Symbolbegriff verwendet; vielmehr muss man von einem „Doppelsinn“ , einer „intentionalen Struktur zweiten Grades“ (S. 106) ausgehen, die durch Interpretation herauszufinden ist. Der „Sinn“ eines Symbols weist in eine vertiefende Richtung, die jedoch kaum jemals eindeutig zu fassen ist. Das gilt auch und in besonderem Maße für religiöse Symbole, wie Bollnow in einem erhellenden Beitrag über Religionswissenschaft als hermeneutische Disziplin (1978) ausführt. Am Ende des um das Unbewusste erweiterten Verstehens steht somit die „Unergründlichkeit des Symbols“ (S. 161).
In den beiden Büchern zur Philosophie der Erkenntnis (1970) und Das Doppelgesicht der Wahrheit (1975), die in Band XII der Studienausgabe abgedruckt sind, sind zahlreiche Aufsätze (z.B. über Die Objektivität der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, 1962, und Über die die Unmöglichkeit eines archimedischen Punkts in der Erkenntnis, 1964) zusammengefasst. In ihnen sucht Bollnow das Phänomen „Erkenntnis“ und das Phänomen „Wahrheit“ von verschiedenen Seiten her einzukreisen, ohne sich auf ein bestimmtes Verständnis, was beides definitiv sei, von vornherein festzulegen. Sein Ansatz ist kein logisch-axiomatischer oder streng empiristischer, auf Sinnesdaten festgelegter, sondern ein anthropologisch-hermeneutischer, der Erkennen und Wahrheit „hineinnimmt in das Ganze des menschlichen Daseins und die ganze Fülle dessen, was die verschiedenen anthropologischen Einzelwissenschaften zusammengetragen haben“ (S. 21).
Der erste Teil, die Philosophie der Erkenntnis, beginnt damit, dass ein „archimedischer Punkt“, von dem nach Descartes jede sichere Erkenntnis ausgehen müsse, und ein „absoluter Anfang“ nicht gefunden werden kann (S. 16f.), geht dann über zur Vorfindlichkeit des Menschen in einer schon „verstandenen“ Welt , in der er sich vor allem „praktisch“ orientieren muss (entsprechend dem Ansatz bei Dilthey und Heidegger, mit einem Seitenblick auf Bergson und Dewey , S. 27ff.), um sich dann einer detaillierten Untersuchung der Wahrnehmung (mit einem Exkurs über Cassirer) zu widmen (S. 46ff.). Von dort geht es weiter in den Bereich der Meinung, des „Geredes“ (nach Heidegger), der sozialen Vorstruktur des Verstehens bis zur Kritik an Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils in Wahrheit und Methode (1960). Bollnow schreibt dazu: „Wenn man das Vorverständnis als Vorurteil zu fassen versucht, zerstört man die Offenheit der immer neuen , sich selbst bereichernden Erfahrung und schließt den Menschen ein in den unverrückbaren geschlossenen Kreis seiner mitgebrachten Vorurteile.“ (S. 99, kursiv v.V.)
Insgesamt halten sich Bollnows Ausführungen zur Philosophie der Erkenntnis an den Rahmen „normalen“ menschlichen Lebens mit seinem „vorwissenschaftlichen Welt- und Lebensverständnis“ (S. 131), das durch Sozialisation und Enkulturation in Familie, Schule und anderen sozialen Erfahrungsbereichen geprägt ist. Das Abschlusskapitel handelt von der Lebenserfahrung (S. 116ff.) die der Mensch „selber gemacht haben muß“, nachdem er das Überlieferte und Angeeignete „schrittweise mit eigener Anschauung und eigenem Leben erfüllt“ hat (S. 132). Hier zeigt sich noch einmal die von Bollnow auch in der Pädagogik angestrebte anthropologische Zentrierung. Das wissenschaftlich-methodische Erkennen sieht dagegen von allem Persönlichen ab. Hier gilt vor allem die Forderung nach grundsätzlicher Überprüfbarkeit durch „Zurückführung auf beobachtbare Tatbestände“ (S. 135). Für diese Art des Erkennens gelten spezielle Kriterien und Methoden, wie z.B. für Versuchsanordnungen, Beobachtung und Beschreibung der zu untersuchenden Vorgänge, erklärende und antizipierende Hypothesen etc. Näheres gehört in die Methodologie der Natur- und Sozialwissenschaften (S. 274ff.).
Der Zweite Teil von Bollnows Philosophie der Erkenntnis ist überschrieben: Das Doppelgesicht der Wahrheit (S. 141ff.). Gemeint ist mit „Doppelgesicht“ zunächst das auf die griechische Philosophie zurückgehende Wahrheitsverständnis als „zutreffende Aussage über einen gegebenen Tatbestand“ (S. 143), sodann jedoch die in der biblischen Tradition vorherrschende Auffassung von „wahr sein“ im Sinne der Zuverlässigkeit einer Beziehung (S. 143). Beide Aspekte, sowohl die reine Sachbezogenheit der „adaequatio intellectus ad rem“ (S. 145), als auch die interpersonale Verlässlichkeit und das Vertrauen spielen, Bollnow zufolge, in unserem Verständnis von Wahrheit eine zentrale Rolle.
Besondere Aufmerksamkeit wird dem „Gespräch als Ort der Wahrheit“ (S. 162ff.) gewidmet, denn weiterführende Erkenntnis ist nur als „eine gemeinschaftliche Leistung“ möglich (S. 164). Im Dialog geht es darum, dass Einer den Anderen ernst nimmt und das eigene Denken an dem, was der Andere sagt, überprüft, um vielleicht zu einer besseren bzw. tiefer begründeten Auffassung zu kommen. Zustimmend wird Karl Jaspers´ Wort vom „liebenden Kampf“ zitiert, in dem es „nicht um die Vernichtung eines Gegners geht, sondern in wechselseitiger Anerkennung im Bewußtsein grundsätzlicher Gleichberechtigung um die gemeinsam zu findende Wahrheit“ (S. 171). Wie für Jaspers ist Wahrheit auch für Bollnow eng an zwischenmenschliche Kommunikation gebunden.
Für eine weiterführende Erörterung bietet sich vor allem die Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas an, die in Band XII der Bollnow-Studienausgabe etliche Seiten füllt (S. 184-201). Von der hermeneutisch interpretierten kommunikativen Erfahrung in den Sozialwissenschaften bis zum „rationalen Diskurs“, mit dem problematisch gewordene „Geltungsansprüche“ (Wahrheit von Behauptungen, Wahrhaftigkeit von Äußerungen und Richtigkeit bzw. Angemessenheit von Normen) überprüft werden sollen, hat sich seine Theorie der kommunikativen Verständigung, Bollnow zufolge, beträchtlich differenziert, zugleich aber auch verengt. Bollnow nimmt in Habermas´ weiterentwickelter Theorie eine „starke Einseitigkeit“ (S. 197) wahr. Während das offene Gespräch ein „hermeneutischer Vorgang“ (S. 220) ist, läuft der Diskurs auf einen „Kampf mit Argumenten“ hinaus, und auch wenn bei Habermas „nur die gewaltlose Macht der besseren Argumente entscheiden darf, so bleibt es doch eine Form des Kampfes“ (S. 199). Dass Habermas andere Arten des Dialogs nicht genügend berücksichtigt, bezeichnet „seine Grenze und seine Ergänzungsbedürftigkeit“ (S. 201).
Im Vergleich dazu gibt es bei Paul Ricœur (u.a. in Hermeneutik und Psychoanalyse, 1974) keine einheitliche Auffassung von Wahrheit und Konsens darüber, wie man sie erreicht, und erst recht keine einheitliche Hermeneutik, sondern „getrennte und einander entgegenstehende Theorien über die Regeln der Interpretation. Das hermeneutische Feld […] ist in sich selbst zerspalten“ (S. 244). Mit Bezug auf Marx, Nietzsche und Freud spricht Ricœur von einer „Taktik des Zweifels“ und einem „Kampf gegen die Masken“ (S. 245), d.h. von einer entlarvenden Tendenz, behauptete Wahrheiten in Frage zu stellen, der eine „Hermeneutik als Wiederherstellung des Sinns“ (ebd.) gegenüber steht. Diese ist zwar durch den Zweifel hindurch gegangen, sucht jedoch die Wirklichkeit möglichst unverstellt zu erfassen, wozu die Methode der Phänomenologie mit ihrer detailgenauen, nicht-reduktiven Beschreibung des jeweils wahrgenommenen Ausschnitts der Wirklichkeit dienlich sein kann. Entscheidend ist jedoch, dass unter dem „Doppelgesicht der Wahrheit“ nicht nur die Spannung zwischen reiner Sachgerichtetheit und menschlicher Beziehung, sondern auch zwischen dem Zweifel, ob die Wirklichkeit so ist, wie sie uns erscheint bzw. dargestellt wird, und dem Vertrauen, das Wahre erkennen zu können und das Richtige zu tun, ausgehalten werden muss. Deshalb zieht Bollnow das Fazit:
„Wir leben in der unaufhebbaren Spannung zwischen den beiden Wahrheiten, einer, die uns vernichtet, und einer, die uns erhebt. Wir müssen den Widerspruch aushalten, ohne ihn durch einseitige Entscheidung beseitigen oder durch eine falsche Lösung verdecken zu wollen. Wir müssen darum in unserm Leben beide Haltungen in uns entwickeln, den kritisch wachen Verstand und das liebend bejahende Vertrauen.“ (S. 247f.)