Otto Friedrich Bollnow:
Der Tod des andern Menschen
Schlagworte: Sprachwissenschaft, Wissenschaftstheorie, Existenzphilosophie, Sprachphilosophie, Biographie, Anthropologie
Schlagworte: Sprachwissenschaft, Wissenschaftstheorie, Existenzphilosophie, Sprachphilosophie, Biographie, Anthropologie
Otto Friedrich Bollnow wird 1903 in Stettin, dem heutigen Szczecin (Polen) geboren. Vater und Großvater sind Volksschullehrer. Der junge Bollnow besucht das humanistische Gymnasium in Anklam (Vorpommern). Als Student geht er zunächst nach Berlin, dann nach Greifswald und Göttingen. Sein wissenschaftlicher Werdegang führt über die theoretische Physik und Mathematik schließlich zur Philosophie und Pädagogik.
1925 wird Bollnow beim Göttinger Atomphysiker Max Born promoviert. Er hört den Dilthey-Schüler Herman Nohl und den Lebensphilosophen Georg Misch. Bollnow nimmt Anteil an Jugendbewegung und Reformpädagogik und arbeitet mit Paul Geheeb und Martin Wagenschein an der Odenwaldschule. Nach dem Erscheinen von Martin Heideggers „Sein und Zeit“ schreibt sich Bollnow in Freiburg ein. Er ist einer der Protokollanten der Davoser Disputation zwischen Heidegger und Cassirer (1929) und habilitiert sich bei Misch zur „Lebensphilosophie F. H. Jacobis“ (1931).
Als Privatdozent liest Bollnow zu Brentano, Kant, Kierkegaard und Schelling. Auf Veranlassung Mischs (Abb.) und Nohls gibt Bollnow die pädagogischen Schriften Wilhelm Diltheys heraus und schreibt eine maßgebliche Einführung in Diltheys Philosophie.
Bollnow gehört zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren zu Adolf Hitler (1933) und dem nationalsozialistischen Staat und steht der nationalsozialistischen Bewegung offen gegenüber. An der Parteimitgliedschaft hindert ihn zunächst die allgemeine Aufnahmesperre; allerdings tritt er dem Kampfbund für deutsche Kultur bei. In seiner wissenschaftlichen Arbeit führt er die Lebensphilosophie unter kritischer Aufnahme existenzphilosophischer Gedanken weiter.
Nach Lehrstuhlvertretungen lehrt Bollnow von 1939 bis zu seiner Einberufung 1943 als ordentlicher Professor für Psychologie und Pädagogik an der Universität Gießen. Bei der Berufung spielt auch die naturwissenschaftliche Qualifikation eine Rolle und seine Fähigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu vermitteln.
1940 tritt Bollnow in die NSDAP ein. Bollnow entfaltet in der gesamten NS-Zeit eine reichhaltige Publikationstätigkeit. Er veröffentlicht mehrere Monografien über philosophische Fragestellungen, so seine Einführung in Diltheys Philosophie (1936) und Das Wesen der Stimmungen (1941/43), außerdem Aufsätze in angesehenen Zeitschriften und Tageszeitungen.
1946 erhält Bollnow trotz seiner Parteimitgliedschaft eine ordentliche Professur in Mainz. Seine in den Kriegsjahren begonnenen Arbeiten, seine Kritik der Existenzphilosophie und Fundamentalontologie Heideggers („Das Wesen der Stimmungen“, 1941) und seine Beiträge zum französischen Existenzialismus (Albert Camus, Jean-Paul Sartre) werden einem breiten Publikum zugänglich. Bollnow wird zum Mitbegründer wichtiger Zeitschriften der Philosophie („Zeitschrift für philosophische Forschung“, mit Gregori Schischkoff, Werner Jaeger, Bertrand Russell, Wilhelm Weischedel) und Pädagogik („Die Sammlung“, mit Herman Nohl, Erich Weniger und Wilhelm Flitner). Bollnows Schriften finden international Beachtung.
Mit den Fünfzigerjahren gehört Bollnow zu den ersten Namen der Philosophie. Er nimmt einen Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik in Tübingen an, wo er 1953 die Nachfolge Eduard Sprangers (Abb.) antritt. Bollnows „Überwindung des Existenzialismus“ mit dem Titel „Neue Geborgenheit“ (1955) erscheint und wird zu einem Schlüsselwerk der Nachkriegsphilosophie in Deutschland. In Tübingen entfaltet Bollnow zugleich große pädagogische Wirkung. Er legt seine pädagogischen Hauptschriften über die „unstetigen Formen der Erziehung“ (1959) und über die „pädagogische Atmosphäre“ (1964) vor.
Tübingen wird nach Bonn („Rothacker-Schule“) und Heidelberg („Gadamer-Schule“) zu einem Mittelpunkt hermeutischen Philosophierens. Rufe an andere Universitäten schlägt Bollnow aus. In den späten Sechziger- und Siebzigerjahren mehren sich Einsprüche aus den Reihen der Frankfurter Kritischen Theorie und der „realistischen“, kritisch-rationalistischen Erziehungswissenschaft gegen die „geisteswissenschaftliche“ Tradition. Bollnow führt dies zu einer Besinnung auf die Unverzichtbarkeit des hermeneutischen Einsatzes in Philosophie und Wissenschaft („Prinzip der offenen Frage“). In Asien und Südamerika, aber auch in der Philosophie und Pädagogik des europäischen Auslands wird Bollnow weiter nachhaltig rezipiert, so etwa in Finnland, Frankreich und Griechenland.
Bollnow ist Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE); ihm folgen u.a. Hans Scheuerl, Hans Thiersch, Wolfgang Klafki und Dietrich Benner. Mit der Arbeit über „Mensch und Raum“ (zuerst 1963) wird Bollnow über die Fachgrenzen hinaus bekannt und zum frühen Vorläufer des spatial turn in den Sozialwissenschaften. Am Lehrstuhl Bollnows entstehen wichtige Arbeiten zur philosophischen und pädagogischen Anthropologie, zur Geschichts- und Kunstwissenschaft, zu Phänomenologie, Pragmatismus und Hermeneutik. Ein „Bollnow-Kreis“ bildet sich, in welchem die Kollegen und Mitarbeiter Bollnows je eigene philosophische und pädagogische Fragestellungen verfolgen.
Bollnows Tübinger Hörerschaft kommt schließlich aus aller Welt. Seine Texte werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, pädagogische Schriften ebenso wie seine Mainzer Studien und die zweibändige „Philosophie der Erkenntnis“ (1970, 1975). Zugleich entwickelt Bollnow eine rege Vortragstätigkeit, die auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1970 anhält. Schüler und Kollegen Bollnows begründen eine eigene „Bollnow-Schule“ im japanischen Kyoto. Bollnow wird u.a. Ehrendoktor der Universität Straßburg und der Tamagawa Daigaku in Tokio. Die letzten Vortragsreisen führen ihn im Alter von über 80 Jahren nochmals nach Korea (Seoul 1984) und Japan (Osaka 1986).
Im hohen Alter wendet sich Bollnow erneut der Begründung einer „Hermeneutischen Philosophie“ und der Auseinandersetzung mit seinem Göttinger Lehrer Misch zu. Seine Spätphilosophie stellt er im „Tübinger philosophischen Kolloquium“ zur Diskussion. Das Kolloquium führt das wissenschaftliche Gespräch auch nach Bollnows Tod 1991 am Philosophischen Seminar der Universität fort.
Auf zwei Tagungen wird der Wunsch nach einer regelmäßigen Diskussion von Bollnows philosophischem und pädagogischem Werk, insbesondere der Entfaltung seiner Spätphilosophie und nach der Vorbereitung einer Studien- und Werkausgabe Bollnows artikuliert. 2004 wird dazu die Otto Friedrich Bollnow-Gesellschaft gegründet, deren treibende Kraft und erster Vorsitzender der Bollnow-Schüler Friedrich Kümmel wird.